Vor ungefähr 30 Jahren hatte ich ein, im wahrsten Sinne des Wortes, „einschlagendes“ Erlebnis. Als Studierender des Sozialwesens und Repräsentant der Evangelischen Studentengemeinde Fulda war ich eingeladen, eine Predigt zu halten. Mit einem gelben VW Polo, Baujahr 1975, machten wir uns zu viert auf den Weg. Eine Kommilitonin fuhr den Wagen. Ich saß mit einer weiteren auf der Rückbank. Die Polizei teilte uns später mit, dass wir von einer großen blauen Limousine erfasst wurden, die mit ca. 80km/h auf der Landstraße unterwegs war, als wir das Stoppschild sträflich missachteten und unvermittelt ihren Weg kreuzten.Der Fahrer meinte, dass er keine Zeit zum Bremsen gehabt habe, so plötzlich sei der Polo vor ihm aufgetaucht. Sein Wagen und er selbst hatten erstaunlicherweise nur geringen Schaden genommen.  Wir allerdings wurden durch die Luft katapultiert, überschlugen uns mehrfach und landeten rücklings auf dem Feld nebenan, wo unser Trip jäh endete. Für mich war das der Anfang einer Reise, die mich einiges über Akzeptanz als Schlüssel zur Veränderung lehren sollte.

Nachdem die Unfallchirurgin die Fraktur meines Schlüsselbeins versorgt, meine Wunden zugenäht und meinen gebrochenen Kiefer verdrahtet hatte, teilte sie mir mit, dass es etwa acht Wochen dauern würde, bis ich wieder normal schlafen und essen könnte.  Wollte ich genesen, musste ich akzeptieren: Akzeptieren, dass ich vorerst auf meinem Rücken und nicht, wie gewohnt, seitlich schlafen werde können. Akzeptieren, dass Bananen-Shakes und Gemüse-Smoothies auf absehbare Zeit meinen trostlosen Speiseplan bestimmen werden. Akzeptieren, dass es keine gute Idee wäre, sich in den darauffolgenden Wochen aus irgendeinem Grunde zu übergeben. (Es sei denn, ich wollte einen potenziell tödlichen Autounfall überleben, nur um später an meinem eigenen Erbrochenen zu ersticken).
Als mein Schlüsselbein nach zwei Monaten zusammengewachsen und der Draht aus meinem Kiefer entfernt worden war, meinten die Ärzte, es wäre an der Zeit, meine Schulter wieder zum Tragen und meine Zähne wieder zur Nahrungsaufnahme zu benutzen.  Allerdings: Jeder Versuch zu kauen – auch das weichste Stück Gemüse – fühlte sich an, als würde ich mir selbst einen Kinnhaken verpassen. Ich erinnere mich noch gut an die Stimme in meinem Kopf, die schrie: „Frank, hör auf damit, du wirst dir wieder deinen Kiefer brechen!“. Pause. Dann eine andere, etwas mildere Stimme: „Frank, willst du dich für den Rest deines Lebens von Bananen-Shakes und Gemüse-Smoothies ernähren? Du hast keine andere Wahl, als deine Kiefer wieder langsam aber sicher zu gebrauchen!“. Zum Glück leistete mir ein Freund Gesellschaft, der meinen Zwiespalt erkannte: „Hey, du musst einfach auf das vertrauen, was die Ärzte dir sagen. Du musst und kannst deinen Kiefer wieder benutzen. Wenn du wieder ganz gesund werden willst, bleibt dir nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass es noch ein Weilchen wehtun wird”.
Er hatte recht und es dauerte tatsächlich nur wenige Tage, bis ich meine alte Bissfestigkeit und Schmerzfreiheit wiedergewonnen hatte. Was aber keineswegs das Ende meiner inneren Reise bedeutete! Wie ich bald herausfinden sollte, waren nicht nur meine Knochen, sondern auch mein Vertrauen in andere Menschen als sichere Autofahrer gebrochen. Wenn es nur irgendwie möglich war, fuhr ich selbst oder verzichtete ganz auf dieses Verkehrsmittel. Spätestens als ich mein Psychologiestudium in Bremen aufnahm und mich mit Angststörungen beschäftigte, wurde mir klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ich vermied es weiterhin als Beifahrer irgendwo einzusteigen und mein Trauma bliebe bestehen. Oder ich akzeptierte, dass man sich als Beifahrer auf andere verlassen und zwangsläufig Kontrolle abgeben musste, und hätte eine Chance, das Trauma irgendwann zu überwinden.
Zum Glück wählte ich die zweite Option.

Es war ein langer und schwieriger Prozess der Veränderung. Auch für meine Freunde, denen meine hartnäckigen Vertrauensprobleme bezüglich ihrer Fahrkünste durchaus nicht entgingen. Nur das bedingungslose Akzeptieren meiner Angst, und das Akzeptieren des Bemerkens meiner Angst durch andere, und das Akzeptieren des Restrisikos eines Unfalles, das immer bestehen bleiben würde, und das Akzeptieren der Zeit, die es brauchen würde, bis Heilung eintreten könnte, ermöglichte mir schlussendlich neue Erfahrungen mit sichereren Fahrer*innen zu sammeln, als es meine damalige Kommilitonin wohl war.
Auch wenn ich es nie wieder auf eine Kanzel zu einer Predigt schaffte, so konnte ich doch etwas Fundamentales über das Leben selbst lernen, was mit dem Paradox der Akzeptanz als Schlüssel zur Veränderung zu tun haben scheint.

In diesem Sinne hoffe ich, ihr seid inspiriert, etwas über eure Erfahrungen mit der Weisheit von Akzeptanz mitzuteilen und verbleibe bis nächste Woche mit einem Gedicht von Erich Fried, das, wie ich finde, ganz gut zum Thema passt:

„Was es ist“ von Erich Fried

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft

Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst

Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht

Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung

Es ist was es ist
sagt die Liebe

     
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